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  • AutorenbildJana Lucas

Kunstwerk des Tages – 28.04.2020


Christus und Johannes als Skulptur

Meister Heinrich von Konstanz, Christus-Johannes-Gruppe, um 1280/90 (?), Nussbaumholz, gehöhlt, umfangreiche Reste der originalen Fassung, 141 x 73 x 48 cm, Museum Mayer van den Bergh, Antwerpen. © MMB.0224, Museum Mayer van den Bergh, Image: Bart Huysmans.


Gehören Sie auch zu jenen Menschen, die viel von sich fordern und schnell mit sich unzufrieden sind? Ich hatte mir beispielsweise mit Beginn des Corona-Lockdowns vorgenommen, mein Buch über erfolgreiche Unternehmerinnen aus der Geschichte um mehrere Kapitel voranzubringen. Viele Seiten habe ich bisher allerdings nicht geschrieben. Es gibt zahlreiche Gründe, die uns zwischen überhöhten Erwartungen an unser Arbeitspensum und herausforderndem Homeschooling an uns selbst zweifeln lassen.

Nicht nur während des Corona-Lockdowns neigen wir dazu, unrealistische Forderungen an uns selbst zu stellen und uns streng zu beurteilen. Dabei ist es für Erfolge zielführender, liebevoll und nachsichtig mit sich umzugehen, wenn etwas nicht klappt. Wir können zwar das Coronavirus und andere äussere Einflüssen kaum bestimmen, doch es liegt in unserer eigenen Verantwortung, wie wir uns selbst begegnen.

Wenn ich in diesen Tagen darüber lese, wie wichtig es sei, sich selbst gegenüber mitfühlend zu verhalten und self-compassion zu üben, wie es auf Englisch heisst, kommt mir die Christus-Johannes-Gruppe aus dem Museum Mayer van den Bergh in Antwerpen in den Sinn. Völlig ahistorisch betrachtet kann die Skulptur als ein Symbolbild für unser Mitgefühl zu uns selbst stehen. Die Szene ist der Erzählung vom letzten Abendmahl entnommen, wie sie im 13. Kapitel des Johannesevangeliums beschrieben wird: „Es war aber einer unter seinen Jüngern, den Jesus liebhatte, der lag bei Tisch an der Brust Jesu.“

Diese hinreissende, über 700 Jahre alte Zweiergruppe stammt ursprünglich aus dem Dominikanerinnenkloster St. Katharinental am Hochrhein, das zu den kulturgeschichtlich bedeutsamsten Orten des südlichen Bodenseeraumes zählt. Denn die dem Adel und dem städtischen Patriziat entstammenden Frauen tätigten hier ausserordentliche Kunststiftungen.

Die Schönheit dieser farbig gefassten Nussbaumfigur offenbart sich, je länger man sie betrachtet. Das Aussergewöhnliche liegt in den feingeschnittenen Gesichtszügen der Figuren und ihrer Beziehung zueinander, in der zärtlichen Umarmung und Ruhe der beiden. Sie scheinen sich so nah zu sein, dass es auch formal keinen Freiraum zwischen den beiden Körpern gibt, die nahtlos aneinander grenzen. Die Männer haben ihre rechten Hände ineinandergelegt. Ihre Arme formen einen Bogen, welcher die über den Knien Jesu entstandenen Gewandfalten spiegelt. Die linken Hände ruhen jeweils auf der Schulter und dem Oberschenkel von Johannes und sind parallel zueinander ausgerichtet.

Doch es gibt auch Unterschiede zwischen Christus und Johannes, die das Bildwerk mit einer subtilen visuellen Spannung aufladen. So brechen etwa die leicht gespreitzten Finger von Johannes Hand die ansonsten parallel angeordneten linken Hände der beiden auf. Jesus blickt die Betrachtenden an, während Johannes die Augen fast geschlossen hat. Das dunkle lange Haar des Gottessohnes liegt in glatten Strähnen an seinem Haupt, das Haar von Johannes kräuselt sich in kleinen, hellen Locken. Jesus trägt einen Bart, Johannes zeigt seine feinen, baren Gesichtszüge.


Es gibt wenige Bilder, die es vermögen, eine solche Innigkeit abzubilden, wie es der Meister aus Konstanz schafft. Wer bei sich selbst metaphorisch gesprochen sein Haupt auf die Schulter legen kann, wer sich selbst mit einer Umarmung Halt geben, wer sich selbst ein guter Freund sein und seine eigenen Schwächen anerkennen kann, ohne sich selbst zu verurteilen, ist zufriedener und erzeugt langfristig innere Sicherheit, Geborgenheit und Stärke. Diese sind die Grundlage für Selbstvertrauen und Zuversicht, die wir insbesondere in äusserlich unsicheren Zeiten brauchen. Innere Geborgenheit macht uns stark, bringt es der Psychologe Hans Mogel auf den Punkt. Erst aus dieser inneren Stärke heraus lässt sich Neues gestalten und Leistung erbringen.

Anstatt nun die zehn besten Tipps für mehr Selbstmitgefühl aufzulisten, lade ich Sie ein, die Skulptur zu betrachten und darüber nachzudenken, wie Sie liebevoller mit sich umgehen können. Wenn wir uns von der Christus-Johannes-Gruppe anregen lassen, über unser Verhältnis zu uns selbst nachzudenken und uns selbst zu begegnen, sind wir nicht so weit weg vom ursprünglichen Gebrauch der Skulptur. Das Johannesbild stand im Nonnenchor des Frauenklosters und sollte die Schwestern zur Meditation anregen. Sie half den Frauen, sich betend in mystischer Versenkung in die Rolle des Johannes zu versetzen, um Christus so nahe zu sein wie sein Lieblingsjünger.



PS:

Aus St. Katharinental haben sich im Vergleich zu anderen Klöstern des Bodenseegebietes besonders viele Kunstwerke erhalten, die sich heute in den bedeutendsten Sammlungen der Welt wie dem Metropolitan Museum of Art befinden. In einer der grössten gesellschaftlichen Krisensituationen der beginnenden Neuzeit, während der Reformation und dem Bildersturm, drohte auch das Kloster verwüstet zu werden. Doch die klugen Schwestern aus St. Katharinental erahnten die Katastrophe und schmuggelten – vermutlich mit einem Weitling – in einer Nacht des Jahres 1529 ihre Kunstwerke aus dem Kloster über den Rhein, um diese am anderen Ufer in Sicherheit zu bringen. Ohne diese kühne Aktion wären die Skulpturen zerschlagen und verbrannt worden.


 

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