Marcel Scheibe, N WEEK N, ø 88 cm, Transparency in Lightbox, Edition of 2, 2019. © Marcel Scheible
Bildende Künstlerinnen und Künstler kreieren stetig neue Welten. Auf Papier, als Raum- oder Videoinstallation, auf der Leinwand oder mit Hilfe zahlreicher anderer Materialien und Medien. Sie sind Innovationsexperten. Innovatives Handeln ist für sie genauso zentral, wie es das für Unternehmer*innen, Wissenschaftler*innen und Senior Executives sein sollte. Innovation ist die Grundlage, um Organisationen, Märkte, Branchen und Gemeinschaften zu verändern und nachhaltig wettbewerbsfähig zu bleiben. Viele Unternehmen setzen heute auf Design Thinking und andere schnelle Methoden, um Ideen zu generieren und umzusetzen. Aber lassen sich kluge Innovationen tatsächlich auf Knopfdruck durch eine Methode entwickeln? Und wie arbeiten Künstlerinnen und Künstler im Vergleich zu Unternehmen und Organisationen?
Ich habe mich mit dem Basler Künstler Marcel Scheible über seinen Arbeitsprozess unterhalten und mir diesen anhand der 2019 entstandenen Fotoserie „so far – so close“ von der ersten Idee bis zu den fertigen Leuchtboxen erklären lassen.
Mehrdeutige Materie
Die Serie „so far – so close“ besteht aus mehreren Foto-Leucht-Objekten. Was die Fotografien zeigen, ist auf den ersten Blick schwer auszumachen. Kugelförmige Körper schweben vor einem schwarzen Grund. Suggeriert die runde Form einen Blick durch ein Teleskop oder durch ein Mikroskop? Sehen wir majestätische Planeten, undefinierte Viren oder Moleküle, verdorbene Früchte oder bedrohliche Kanonenkugeln? Beim Anblick entstehen vielfältige Assoziationen. Die Arbeiten fordern unsere Wahrnehmung heraus und irritieren.
Die Oberflächen der vier Kugelkörper präsentieren eine steinerne, verputzte Struktur. Verwitterungsspuren, Abplatzungen und Moosbewuchs ist in einem breiten Spektrum von Grautönen zu erkennen. Die körnige Oberfläche verweist deutlich auf ein steinernes Objekt. Steine schweben jedoch nicht, sondern liegen schwerkraftbedingt irgendwo auf. Schwebende, steinerne Körper bilden einen Widerspruch für unsere Sehgewohnheiten.
Auch eine Deutung der Objekte als Himmelskörper geht nicht auf. Wir sehen einerseits eine millimetergenau zu erkennende Oberflächenstruktur, andererseits scheinen die vermeintlichen Planeten weit entfernt im All zu zirkulieren. Zwar ruft die Beleuchtung der Kugelkörper eine Assoziation mit dem Mond hervor, doch es fehlen die dunklen Tiefebenen, Krater, Rillen und Löcher des Erdtrabanten. Und auch ein unter den Linsen eines Mikroskops tausendfach vergrössertes Zellkörperchen kommt selten mit solch einer Massivität daher. Worum es sich genau handelt, bleibt unklar. Es herrscht eine subtile Spannung aus der künstlich erzeugten Verbindung zwischen Nähe und Ferne, die uns sonst nur aus Videotelefonaten bekannt ist.
Von der ersten Idee zum Produkt
Welcher Denk- und Arbeitsprozess liegt diesen Bildern zugrunde? „Ich war auf der Suche nach weiteren Aufnahmen für die Reihe ‚sites and narratives‘. Die Gestaltung unseres Lebensraums steht im Fokus dieser Fotografien. In urbanen und landschaftlichen Ansichten suche ich nach widersprüchlichen und vielschichtigen Motiven. Dazu ging ich in den Wenkenpark in Riehen. Die Situation mit dem Weiher und den Balustraden im Park zog mich magisch an.“, erklärt Marcel Scheible den Startpunkt des Projekts. „Dabei sind mir die steinernen Kugeln auf dem Brückengeländer und auf den zwei Treppenpfosten aufgefallen. Ich machte ein paar Fotos, bei denen ich die Kugeln als interessanten Blickpunkt im Vordergrund vor die ausgedehnte Parklandschaft gestellt habe.“ Doch die Bilder begeisterten den Fotografen wenig. „Zu konventionell. Den Bilder fehlt das mehrschichtige Leseangebot, die gesuchte Brüchigkeit.“ dachte er und legte die Arbeiten beiseite.
Nach einigen Monaten nahm er die Aufnahmen wieder hervor. Mit dem zweiten Blick sah er mehr. „Die Idee kam erst, als ich im Atelier angefangen habe, mit den Bildern zu arbeiten. Das künstlerische Arbeiten ist wie nach etwas zu graben.“, erläutert Scheible die Vorgehensweise. „Dabei habe ich gemerkt, dass die Säulenabschlüsse, also die Kugeln, in einem interessanten Zustand sind. Zum einen ist da die Idee des perfekten, plastischen Körpers. Alle Punkte der Oberfläche sind gleich weit vom Mittelpunkt entfernt. Und zum anderen tragen sie Verwitterungsspuren, Flechten und Moose, die sich das Objekt aneignen.“
Die Kugeln erschienen ihm nun als visueller Schatz, den es freizulegen galt. Er bearbeitete die Bilder digital, zoomte die Säulenabschlüsse heran und merkte schnell, dass er neu fotografieren muss, mit einer anderen Technik. Diesmal konzentrierte sich Scheible im Park ausschliesslich auf die Säulenabschlüsse. „Ich habe einen schwarzen Molton hinter den Kugeln aufgespannt und die Kugeln mit einem Scheinwerfer ausgeleuchtet.“
Zurück im Atelier bearbeitete der Künstler die Bilder digital nach und entwickelte die Rahmung. Was nach einem schlichten schwarzen Rahmen aussieht, ist ausgeklügelt. In den gefrästen Rahmen sind LED-Bänder einmontiert. Der Rahmen hat eine klare Funktionalität und gehört zum Werk. Lange arbeitete er daran, damit das tiefe Schwarz und das subtile Strahlen der Kugeln zur Geltung kommt. Der spezielle Lichteinfall unterstreicht die Plastizität der Kugeln, die sich mittlerweile in etwas Unbestimmtes verwandelt haben.
Beim Ausprobieren und Herantasten an Lösungen, etwa bei der Form und Grösse der Bildobjekte sowie dem Verhältnis zwischen Kugelobjekt und schwarzer Umgebungsfläche, fragt Marcel Scheible nicht nur sich selbst „Funktioniert das, was ich mir wünsche?“, sondern bittet auch andere Menschen um Feedback. Das Integrieren von Feedback und das Austesten von formalen Lösungen bilden zentrale Elemente, wenn er ein Projekt umsetzt.
Fünf Schritte
Der künstlerische Erarbeitungsprozess von „so far – so close“ beinhaltet fünf Schritte, die sich ebenso ausserhalb der künstlerischen Praxis anwenden lassen.
Eine kreative Grundspannung erzeugen: Es kommt darauf an, den reinen Denkprozess zu verlassen und zu beginnen, eine erste, vage Idee umzusetzen. Im Tun treten überraschende, neue Aspekte hervor. Es braucht Offenheit und Flexibilität, um neue Eindrücke und Ideen zuzulassen und diesen intuitiv zu folgen.
Kreatives Ruhenlassen: Wenn keine Lösung zu erkennen ist und sich keine wirkungsvolle Idee einstellt, empfiehlt es sich, das begonnene Projekt beiseite zu legen.
Der zweite Blick: Der zweite Blick sieht mehr, er ist tiefer und genauer. Der zweite Blick zeigt, was tragfähig ist und Substanz hat. Mit dem zweiten Blick lässt sich ein solides Konzept entwickeln.
Neu umsetzen: Vielleicht muss man wie beim Monopoly zurück auf Los und von vorn beginnen. Doch diesmal gibt es ein klares Konzept. Der Fokus ist geschärft, eine verbesserte Technik und Ausstattung bewirken einen Qualitätssprung.
Feedback einholen, testen, integrieren und fertigstellen
Offenheit, Intuition und Unzufriedenheit
Effektive Innovation erfordert kreative Unruhe, flexible Strukturen, zielführende Entdeckungen, bewusstes Abstandnehmen sowie eine konstante Umsetzungsarbeit inklusive Feedback und Tests. Statt an einem starren Plan festzuhalten, lohnt es sich, flexibel zu sein und sich offen auf neue Entdeckungen einzulassen.
Wer Zusammenhänge ausschliesslich auf der Grundlage von Zahlen betrachtet und genau nach Plan vorgeht, übersieht möglicherweise vielversprechende Aspekte und vergibt Chancen, eine überzeugendere Lösung zu entdecken. Daher kann es auch bei wirtschaftlichen Prozessen gewinnbringend sein, der eigenen Intuition zu folgen und jenen Dingen Aufmerksamkeit zu widmen, die zunächst nicht beabsichtigt waren.
Ebenso grundlegend ist es, Unzufriedenheit als integralen Bestandteil der Lösungsfindung zu betrachten. Wer im Verlauf eines Innovationsprozesses an einen Punkt gelangt, wo sich Frustration und Unzufriedenheit einstellt, sollte sich freuen. Unzufriedenheit spornt uns an, weiterzudenken und nach Lösungen zu suchen. Wer diesen Schritt auszuschalten versucht, erleidet einen Qualitätsverlust.
Das Entwickeln von Neuem kann zufällig beginnen, wie das Beispiel von Marcel Scheibles Serie „so far – so close“ zeigt. Das Geheimnis liegt jedoch darin, den Zufall selbst herbeizuführen. Was machen Sie, um regelmässig schöpferische Zufälle zu kreieren?
Mehr Informationen zu Marcel Scheible unter www.marcelscheible.ch
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